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GlotzGedanken: Warum Coraline "unheimlich" ist
Am 03. August 2010 im Topic 'GlotzGedanken'


Coraline hatte mich schon bei der diesjährigen Oscar-Verleihung fasziniert, denn dort gehörte er mit zu den Filmen, die in der Kategorie "Bester animierter Film" auf den wichtigsten Preis der Filmbranche hofften. Der Oscar ging zwar an Pixars "Oben" - und das auch ziemlich verdient, doch auch Coraline ist ein wirklich guter Film, dem die Auszeichnung ebenfalls ganz gut gestanden hätte.

Nachdem ich den Film jetzt endlich gesehen habe, bin ich total begeistert von ihm, da er viel Raum für psychoanalytische Interpretationsweisen offen lässt und einen angehenden Literaturwissenschaftler wie mich fast schon dazu herausfordert, ihn entsprechend zu analysieren. Ich werde hier Coraline mithilfe von Siegmund Freuds Essay Das Unheimliche (1919) ein wenig tiefer in den Film einsteigen.

ZUnächst zum Begriff des "Unheimlichen". Freud schreibt dazu: Das deutsche Wort »unheimlich« ist offenbar der Gegensatz zu heimlich, heimisch, vertraut, und der Schluß liegt nahe, es sei etwas eben darum schreckhaft, weil es nicht bekannt und vertraut ist. (Das Unheimliche) "Unheimlich" können uns also nur Dinge werden, die uns vertraut sind. Genau deshalb können z.B. ein Kinderzimmer, ein Karussell oder die Melodie einer Spieluhr gruselig erscheinen, weil all dies Dinge sind, die uns an eine vertraute Phase unseres Lebens, die Kindheit erinnern: Sie sah sich im Zimmer um. Es war ihr so vertraut - das war ja gerade das Seltsame daram. Alle war haargenau so, wie sie es in Erinnerung hatte. (Coraline, 78) Eine Schlussfolgerung Freuds lautet entsprechend, daß das Unheimliche das Heimliche-Heimische ist (Das Unheimliche). Als Ergänzung zu Freud sei außerdem auch noch Horrorautor- und theoretiker Stephen King zitiert: der gute Horrorfilm [...] bewirkt vor allem eines, er kickt uns die Krücken des Erwachsenseins fort und lässt uns die Rutschbahn zurück in die Kindheit hinabschlittern. Und dort kann unser eigener Schatten wieder zu dem eines bösen Hundes werden, einem klaffenden Maul oder einer lockenden, dunklen Gestalt (Danse Macabre). Auch Stephen King ist sich bewusst darüber, dass effektiver Horror nur dann funktioniert, wenn er kindlische, sprich: heimische Ängste, in uns weg, wodurch wir ein unheimliches Gefühl bekommen.

Coraline Jones, die namensgebende Hauptfigur zieht mit ihren Eltern, die beide Schriftsteller sind und zu Hause arbeiten, in eine der drei Wohnungen des sogenannten rosa Palastes, einem 150 Jahre alten riesigen (Herren-)Haus. In den beiden anderen Wohnungen leben zwei abgehalfterte Theaterschauspielerinnen, die mich mit ihren (lebendigen und ausgestopften) Hunden irgendwie an die Jacob Sisters erinnert haben, sowie ein ehemaliger Zirkusartist, der mit halsbrecherischen Stunts umherwirbelt und einen imaginären Mäusezirkus trainiert. In der Nähe lebt auch der nerdige Wybie, der eine "wilde" schwarze Katze als Haustier hält. Er gibt Coraline später eine Puppe, die exakt wie ein Double des Mädchens aussieht.

Das Doppelgängertum und die dadurch entstehende Ich-Verdopplung, Ich-Teilung, Ich-Vertauschung (Das Unheimliche) sind eine sichere Quelle des Gruseligen, so auch bei Coraline. Woher sollte Wybies Oma die angeblich uralte Puppe haben, deren Entstehungs- und Recyclingsprozess der Zuschauer im Vorspann des Filmes beobachten konnte? Eine gewisse Irritation stellt sich ein.

Über Puppen schreibt Freud in Das Unheimliche Einiges. Unheimlich seien dabei vor allem die »Zweifel an der Beseelung eines anscheinend lebendigen Wesens und umgekehrt darüber, ob ein lebloser Gegenstand nicht etwa beseelt sei« [...] [. Dies beruhe] auf de[m] Eindruck von Wachsfiguren, kunstvollen Puppen und Automaten. (Das Unheimliche) Dass es ausgerechnet von Coraline eine Zwillingspuppe gibt und nicht z.B. von ihren Eltern liegt an der Nähe von Puppe und Kind: Natürlich sind wir aber gerade mit den Puppen vom Kindlichen nicht weit entfernt (Das Unheimliche), schreibt Freud richtiger Weise. Freud zeigt, dass er in diesem Zusammenhang sehr viel von der kindlichen Psyche versteht: bei der lebenden Puppe ist von Angst keine Rede, das Kind hat sich vor dem Beleben seiner Puppen nicht gefürchtet, vielleicht es sogar gewünscht. Die Quelle des unheimlichen Gefühls wäre also hier nicht eine Kinderangst, sondern ein Kinderwunsch oder auch nur ein Kinderglaube (Das Unheimliche). Für Coraline ist die Puppe zunächst nichts Unheimliches, sondern ein durchaus willkommener Spielgefährte. Beim Durchstreifen des Hauses zeigt sich dies deutlich: Coraline reibt in ein verstaubtes Fenster zwei Gucklöcher, eines für sich, eines für die Puppe, die dadurch eine gewisse Belebung erfährt.

Bei der Durch- und Untersuchung des Hauses, entdeckt Coraline im Wohnzimmer hinter der Tapete eine kleine Tür, die sich mit einem Schlüssel in Form eines Knopfes öffnen lässt. Allerdings stellt sich die Tür, zu Coralines Enttäuschung, als zugemauert heraus. Nachts jedoch öffnet sich diese Tür auf geheimnisvolle Weise und eine kleine Schar von Springmäusen führt Coraline durch einen blau-violett schimmernden Tunnel in ein Haus, dass wie eine gespiegelte Version des rosa Palastes erscheint. Die Parallelen zu Lewis Carolls Alice im Wunderland und sind offensichtlich. Fungiert bei Caroll der weiße Märzhase als Bote zwischen unserer Welt und einer fantastischen "anderen" Welt, so sind es bei Henry Selicks Coraline die vier Springmäuse.

Freud schreibt in seinem Essay auch über den Zusammenhang von "geheim" und "unheimlich". Dass "Heimliche", das Verborgene kommt aus seinem Versteck hervor und wird im Wortsinn "un-heimlich". Für Freud ist deshalb am interessantesten, daß das Wörtchen heimlich unter den mehrfachen Nuancen seiner Bedeutung auch eine zeigt, in der es mit seinem Gegensatz unheimlich zusammenfällt. Das Heimliche wird dann zum Unheimlichen [...] Wir werden überhaupt daran gemahnt, daß dies Wort heimlich nicht eindeutig ist, sondern zwei Vorstellungskreisen zugehört, die, ohne gegensätzlich zu sein, einander doch recht fremd sind, dem des Vertrauten, Behaglichen und dem des Versteckten, Verborgengehaltenen. (Das Unheimliche) Wenn das "Heimische" etwas "Heimliches" verbirgt und dieses dann zum Vorschein kommt, wird es "Unheimlich", da dadurch auch ein großes Stück an Sicherheit verlorengeht. Wenn das "Heimische" "unheimlich" wird, verliert es seinen Zufluchtscharakter und kann keinen Schutz mehr bieten. Genau deshalb ist Horror so effektiv, wenn er sich in vertrauten Umgebungen abspielt - er konfrontiert uns mit der Angst, unseren Zufluchtsort zu verlieren und damit ungeschützt wem oder was auch immer ausgeliefert zu sein.

In diesem "anderen" Haus gibt es auch eine "andere" Mutter, die sich, im Gegensatz zur echten Mutter, wirklich für Coraline interessiert und ihr ein leckeres Festmahl zubereitet. Und auch der "andere" Vater, ein Musiker, der von seinem Klavier gespielt wird, zeigt wirkliches Interesse an Coraline. Coraline bekommt ihren Lieblingsmilchshake, kann mit ihren Freunden sprechen, hat lebendige Spielzeuge. Die Welt hinter dem Tunnel, der analog zu Alice' Kaninchenbau ist, scheint perfekt zu sein.

Freud mahnt jedoch zur Vorsicht vor allzu großer Perfektion: Im ›Ring des Polykrates‹ wendet sich der Gast mit Grausen, weil er merkt, daß jeder Wunsch des Freundes sofort in Erfüllung geht, jede seiner Sorgen vom Schicksal unverzüglich aufgehoben wird. (Das Unheimliche) Recht schnell zeigt sich, dass Freud mit seiner Warnung recht hat, denn eine Kleinigkeit irritiert Coraline und den Zuschauer dann eben doch. Statt Augen tragen die "anderen" Menschen schwarze Knöpfe als Augen. Coraline schläft zufrieden in ihrem "anderen" Bett ein, erwacht jedoch in der normalen Welt.

Sie lernt dann auch ihre NachbarInnen Mr. Bobinsky, dessen imaginären Mäuse sie vor der "kleinen Tür" warnen, sowie Miss Spink und Miss Forcible, die in ihren Teeblättern eine große Gefahr vorhersehen, kennen. Die beiden ehemaligen Schauspielerinnen erinnern an die beiden Schwestern Heather und Wendy aus Nicolas Roegs großartigem Film Wenn die Gondeln Trauer tragen/Don't Look Now. Dort ist eine der Schwestern blind, hat jedoch das zweite Gesicht und dementsprechend hellseherische Fähigkeiten. Auch die beiden Schauspielerinnen werfen sich gegenseitig Blindheit vor. Der "blinde Seher" ist ein sehr alter und häufig wiederkehrender literarischer Topos, schon in mehreren Episoden der griechischen Mythologie taucht der blinde Seher Teiresias auf. Der Zuschauer, dem der Tasseninhalt gezeigt wird, kann erkennen, dass die Teeblätter eine Klauenhand formen, ein offensichtlich gefährliches Symbol. Genau wie der Protagonist John Baxter in Don't Look Now ignoriert jedoch auch Coraline alle Warnungen, sie stapft bezeichnender Weise durch Nebel, der alles verhüllt, genau wie Coraline in ihrer selektiven Wahrnehmung die Verhängnis-verheißenden Omen ausblendet. Sie begibt sich wieder in die andere Welt jenseits der kleinen Tür und hat dort weitere wunderbare Erlebnisse.

Ihre "andere" Mutter erzählt Coraline, dass sie für immer in der wunderbaren Spiegelwelt bleiben könnte, es gibt nur einen winzigen Haken. Sie müsste sich Knöpfe in/über ihre Augen nähen lassen - dies lehnt Coraline jedoch dankend ab. Hier merkt Freud an, dass es eine schreckliche Kinderangst ist, die Augen zu beschädigen oder zu verlieren. Vielen Erwachsenen ist diese Ängstlichkeit verblieben, und sie fürchten keine andere Organverletzung so sehr wie die des Auges. Ist man doch auch gewohnt zu sagen, daß man etwas behüten werde wie seinen Augapfel. Das Studium der Träume, der Phantasien und Mythen hat uns dann gelehrt, daß die Angst um die Augen, die Angst zu erblinden, häufig genug ein Ersatz für die Kastrationsangst ist. (Das Unheimliche)

In der englischsprachigen Literatur tauchen "eye" und "I" häufig in engem Zusammenhang auf, was sich schon durch dadurch ergibt, dass sie aus phonetischer Sicht identisch sind: beide werden /aɪ/ ausgesprochen. In den Detektivgeschichten der hardboiled fiction (und dem daraus entstandenen Filmgenre des Film noir) ist der Privatdetektiv als "private eye" häufig auch ein auf sich gestelltes "private I". In Edgar Allan Poes Kurzgeschichte The Telltale Heart/Das verräterische Herz stellt sich dem Leser recht schnell die Frage, ob das "eye" oder das "I" der Grund für den Wahnsinn des Protagonisten darstellt. Dies nur um zwei Beispiele zu nennen.

Mit dem Verlust der Augen ("eye") geht somit also auch der Verlust der Identität ("I") einher. Darüber hinaus stellen die Augen auch den Spiegel der Seele dar, die man verliert, wenn man seine Augen durch Knöpfe austauscht. Dieses Schicksal ist bereits drei weiteren Kindern widerfahren, die Coraline trifft, als sie von der "anderen" Mutter in einen Raum hinter einem Spiegel eingesperrt wird - auch hier grüßt Alice, die sich in ihrem zweiten Erzählband hinter den Spiegeln bewegt und dort Abenteuer erlebt.

Als eine weitere Parallele zu Alice trifft Coraline in der Welt hinter der Tür auf Wybies schwarzen Kater, ein wundervoller Zyniker, der sich frei zwischen den beiden Welten bewegen und in der "anderen" Welt auch sprechen kann. Lewis Carolls Cheshire Cat/Grinsekatze mag hier durchaus Pate gestanden haben. Gemeinsam mit ihm läuft sie vom "anderen" Haus weg, findet sich zunächst in einem weißen Nichts, dann jedoch wieder an ihrem Ausgangspunkt wieder. Sowohl Coraline als auch der Zuschauer sind irritiert: Wie kann das funktionieren?

Freud schreibt zwar, das Moment der Wiederholung des Gleichartigen [werde] als Quelle des unheimlichen Gefühls vielleicht nicht bei jedermann Anerkennung finden (Das Unheimliche), in diesem Fall dürfte es jedoch unstrittig sein. Die Szene ist ähnlich unheimlich, wie wenn man sich, vom Nebel überrascht, verirrt hat und nun trotz aller Bemühungen, einen markierten oder bekannten Weg zu finden, wiederholt zu der einen, durch eine bestimmte Formation gekennzeichneten Stelle zurückkommt (Das Unheimliche) Exakt dies widerfährt Coraline.

In der normalen Welt bekommt Coraline von den beiden Schauspielerinnen einen Stein mit einem Loch in der Mitte, der "gut gegen Böses [und] Verlorenes" ist und mit dem sie in der "anderen" Welt die Wahrheit sehen kann. Ein ähnlicher Stein taucht auch in Die Geheimnisse der Spiderwicks/The Spiderwick Chronicles auf, dort ermöglicht er den Menschen, die verschiedenen magischen Wesen, die um das Haus herum leben und normaler Weise unsichtbar sind, zu sehen. Eine ähnliche Funktion hat er auch in Coraline. Merkwürdiger Weise haben die beiden Schauspielerinnen eine Kiste mit drei Bonbongläsern (beschriftet mit "1921", "1936" und "1960" - was durchaus die Verschwindedaten der drei anderen Kinder sein mögen), in der sich genau der von Coraline benötigte Stein befindet. Man fragt sich spätestens jetzt, ob die beiden (genau wie Mr. Bobinsky und in geringerem Ausmaß auch Wybie) nicht doch mehr wissen, als sie zuzugeben bereit sind.

Als sich allmählich das wahre Gesicht der "anderen" Mutter, die alte Vettel immer deutlicher zeigt, umgibt sie sich mit einer Vielzahl von Käfern. Franz Kafkas Erzählung Die Verwandlung, in der sich der Protagonist Gregor Samsa in einen Käfer verwandelt und somit ebenfalls seiner Identität beraubt vorfindet, kommt einem in den Sinn. Im englischen Original wird die "andere" Mutter auch als beldam bezeichnet, im Deutschen ist es die Vettel. Beides sind archaische Begriffe für eine alte Frau oder, und in diesem Fall auch wesentlich interessanter und aufschlussreicher, eine Hexe. Da der Film durchaus auch in der Märchentradition zu sehen ist, passt die Wahl dieses archaischen Begriffes, sowohl im Englischen wie auch im Deutschen, sehr gut.

Über das Wort beldam ergibt sich darüber hinaus auch ein möglicher Querverweis auf John Keats' Gedicht La belle Dame Sans Merci.

Coraline lässt sich schlussendlich auf ein Spiel mit der "anderen" Mutter ein und schafft es, die Seelen der Kinder sowie ihre gefangenen Eltern zu befreien. Daraufhin verwandelt sich die "andere" Mutter (ähnlich wie in Stephen Kings Es) in eine Spinne, die "andere" Welt zieht sich zu einem Spinnennetz zusammen. Die Insektennatur der "anderen" Mutter ist nun offensichlich. Der Kater kratzt der Mutter ihre Knopfaugen aus, die nun geblendet (kastriert?) Coraline verfolgt. Coraline schafft es, zu fliehen, doch bleibt eine Hand der "anderen" Mutter im Tunnel zurück. Auch hier findet man bei Freud warnende Worte: Abgetrennte Glieder, [...] eine vom Arm gelöste Hand [...], haben etwas ungemein Unheimliches an sich, besonders wenn ihnen [...] noch eine selbständige Tätigkeit zugestanden wird. (Das Unheimliche) Recht schnell zeigt sich, dass der Psychoanalytiker erneut Recht behalten soll.

Nachts erscheinen Coraline die befreiten Seelen der drei Kinder (vor einem wundervollen von Van Gogh inspirierten Nachthimmel) und warnen sie, dass der Schlüssel immer noch eine Verbindung zum "anderen" Haus schaffen kann. Coraline beschließt, den Schlüssel in einen uralten und sehr tiefen Brunnen zu werfen, was ihr nach einem letzten Gefecht mit der abgetrennten Hand der "anderen" Mutter auch gelingt. Mit einer fröhlichen Gartenparty, zu der auch Wybies Großmutter stößt, endet der Film.

Coraline ist ein wirklich guter Horrorfilm, gerade für Kinder. Es scheint in Teilen, als hätte Freuds Das Unheimliche bei der Produktion neben den PCs gelegen, was genau zu dem unheimlichen Gefühl führt und das gesamte Filmerlebnis so gruselig macht.

Quellen und Weiterführendes:

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