PoliTick: Herr Sarrazin und die Realität
Am 07. September 2010
Wenn ich den Namen Thilo Sarrazin höre, werde ich wütend und traurig. Mit Sozialdarwinismus, absichtlich falsch verstandener Genlehre und billig gefälschten "Statistiken" betreibt dieser Banker eine ekelerregende Hetzkampagne, die sich insbesondere gegen muslimische Mitbürgerinnen und Mitbürger richtet. Dass ein vermeintlich intelligenter Mensch, strunzdumme Stammtischparolen so befeuert, ist einfach nur zum Kotzen. Und dass die BILD-Zeitung ihm Schützenhilfe leistet, zeigt mal wieder, wie abgrundtief niveaulos dieses Revolverblatt ist und bestätigt mich darin, weiterhin die Enteignung des Springer-Verlages zu fordern, da dieser für mich eine tickende Zeitbombe ist.
Muslimische Migranten sind integrationsunwillig? Ach ja? Warum erlebe ich dann tagtäglich etwas anderes? Hier in Göttelborn gibt es einige muslimische Familien, die teilweise auch sehr kinderreich sind. Ich habe viele muslimische Jugendliche als offen und engagiert kennengelernt, gerade, was unser neues Jugendzentrum hier in Göttelborn betrifft. Viele gute Ideen und Vorschläge, die wir dort zukünftig umsetzen werden, kamen von türkischstämmigen Jugendlichen, die sich gerne und mit viel Herzblut einbringen. Viele davon spielen auch beim SV Göttelborn Fußball und es freut mich, dass der Verein diese Vielfalt begrüßt und fördert. Im Übrigen gehen alle dieser Jugendlichen fleißig zur Schule oder haben sogar bereits eine Ausbildung begonnen. Mit diesen engagierten Jugendlichen wird Deutschland ganz bestimmt nicht "verdummen".
Mich würde interessieren, ob Herr Sarrazin (der leider ein Genosse ist, den ich jedoch mit Sicherheit nicht duzen werden) jemals einen islamischen Gottesdienst besucht hat. Ich persönlich habe das vor ein paar Jahren getan und es war eine der interessantesten Erfahrungen, die ich bisher machen durfte. Und ich würde jedem empfehlen, diese Erfahrung auch ein Mal zu machen. In der Moschee in Brefeld bin ich auf sehr viel Gastfreundschaft gestoßen, von der sich manch ein "Deutscher" ruhig eine oder gleich mehrere Scheiben abschneiden kann. Auch die Gesprächsrunde nach dem Gottesdienst war sehr interessant - wann hat man schon die Chance, z.B. etwas über islamische Bestattungsvorschriften zu erfahren? Voriges Jahr war ich am Tag der offenen Tür, der am 3. Oktober, dem Tag der deutschen Einheit, stattfand erneut zu Besuch in Brefeld und habe mich dort erneut sehr wohl und sehr willkommen gefühlt. Und ich genieße jedes Mal den unglaublich guten türkischen Tee, den es dort immer gibt.
Beim diesjährigen Schulfest der Grundschule Göttelborn habe ich mich riesig darüber gefreut, dass auch Eltern türkischstämmiger Schüler sich am Schulfest beteiligten und leckere türkische Spezialitäten (zu Spottpreisen) anboten. Von der kürzlich gegründeten islamischen Gemeinde in Göttelborn wurde uns seitens des Jugendzentrums das Angebot gemacht, bei Gelegenheit ein deutsch-islamisches Freundschaftsfest durchzuführen. Wir werden bestimmt gerne auf dieses Angebot zurückkommen.
Besonders traurig finde ich Herrn Sarrazins Ausführungen, wenn man sich mit der Geschichte seiner Familie beschäftigt. Herr sarrazin stammt nämlich von französischen Hugenotten ab, die in Frankreich aufgrund ihrer Religion verfolgt wurden und in Deutschland, insbesondere im weltoffenen Berlin, Zuflucht fanden. Dass jemand, der selbst von Migranten abstammt und seine bloße Existenz der Gastfreundschaft eines Landes verdankt, dermaßen über "integrationsunwillige Migranten" schimpft, ist für mich absolut nicht nachvollziehbar.
Ich fühle mich auch in gewissem Maße selbst angegriffen. Ich bin kein Moslem, nein, ich bin gläubiger evangelischer Christ, aber ich habe zu einem gewissen Grad auch einen "Migrationshintergrund". Mein Nachname lautet "Rozenski" und stammt aus Polen, genau wie meine Großeltern väterlicher Seits. Hin und wieder bezeichne ich mich selbst auch augenzwinkernd als "Viertelpole", obwohl ich (leider) weder polnisch spreche (meine Großeltern sprachen immer nur Hochdeutsch mit mir), noch die polnische Kultur kenne. Aber ich bin mir meiner Wurzeln trotzdem bewusst und als ich vor ein paar Jahren ein paar Stunden in Polen verbringen konnte, war das ein durchaus interessantes Gefühl.
Ich bestreite nicht, dass es "integrationsunwillige Migranten" gibt, aber genauso gut gibt es auch "Deutsche", die sich nicht in die Gesellschaft integrieren wollen. Ein bewusster Fehler Sarrazins ist die Verallgemeinerung. Dabei gibt es "die Deutschen", "die Türken", "die Männer", "die Frauen", "die Schwarzen", "die Schwulen", "die Moslems", "die SPDler", usw. gar nicht. Keine dieser Gruppen ist ein monolithisches Gebilde, sondern diese Bevölkerungsgruppen bestehen aus Tausenden grundverschiedener Individuen. Und schwarze Schafe gibt es in jeder dieser Gruppen, deshalb kann und darf man jedoch noch lange nicht alle Menschen einer bestimmten Bevölkerungsgruppe dermaßen über einen Kamm scheren, wie Herr Sarrazin das in gefährlicher und verlogener Weise tut.
Und übrigens hoffe ich, dass das Parteiausschlussverfahren recht zügig von statten geht und Herr Sarrazin aus der Partei ausgeschlossen wird. Mit den Grundwerten der SPD, Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität, hat Sarrazins billige Hetzkampagne nichts mehr zu tun, da wäre er bei anderen Gruppierungen, die sich die Welt gerne ähnlich leichtreden, deutlich besser aufgehoben. Das "sozial" in "Sozialdemokratie" kommt vom lateinischen "sozius", was "Freund" bedeutet - auf türkisch heißt "Freund" übrigens "arkadaş", was ich dank dem Twitter Roger Zenner kürzlich lernen konnte. Mit Freundschaft haben Sarrazins Parolen nichts mehr zu tun, mit Menschenverachtung und Entwürdigung dagegen sehr. Alles in Allem ist in der SPD für ihn deshalb kein Platz.