TiRos Blog
Montag, 14. Juni 2010
PoliTick: Ich bin ein Schengenkind
Am 14. Juni 2010 im Topic 'PoliTick'


Dieser Text hier ist bereits etwas älter (geschrieben im Oktober 2008) und liegt dementsprechend schon seit einiger Zeit auf meinem Rechner, doch heute ist der perfekte Zeitpunkt, ihn zu veröffentlichen, denn genau heute vor 25 Jahren wurde das Schengener Abkommen unterzeichnet, dass freien Personen- und Warenverkehr in den Mitgliedsstaaten garantiert und Zollkontrollen obsolet macht. Die Nachricht vom 25-jährigen Jubiläum des Schengener Abkommens, mit der mich mein Radiowecker und SR1 in den Tag riefen, stimmten mich schon am frühen Morgen fröhlich und erinnerten mich daran, dass ich zu genau diesem Thema ja mal einen Text geschrieben hatte. Ein kurzes Manifest eines überzeugten Grenzgängers und Europäers.

Ich bin ein Schengenkind

Europa. Für viele ist das nur ein Wort. Ein Wort, das eine große Bedeutung hat, aber weit weg zu sein scheint. Versteckt hinter Glas-Beton-Fassaden und Bürokratie, geduckt in der Ecke hinter Tausenden von Dolmetschern (manchmal sogar eher „Dolmanager“) und Übersetzern.

Für uns hier im Saarland ist das anders. Europa. Für uns ist das ganz nahe. Für uns ist das normal, für uns ist das Alltag und gehört zum Leben dazu, wie die Luft zum Atmen. Reinhard Klimmt hat sein brillantes Buch über die saarländische Geschichte Auf dieser Grenze lebe ich genannt. Doch diese Grenze löst sich immer mehr auf und wird zu Europa.

Es ist für uns normal, in Frankreich einzukaufen. Zu jedem Grill-, pardon, Schwenkabend gehören die scharfen Merguez genauso dazu, wie der Lyoner und die Schwenker von Höll. Und was gibt's dazu? Natürlich „Flitt“. In vielen saarländischen Bäckereien bekommt man die französischen Stangenweißbrote sogar mit der eingedeutschten Schreibweise, aber den meisten Saarländern ist durchaus bewusst, dass es eigentlich „Flute“ heißt. Doch der Begriff „Flitt“ ist so saarländisch, dass sich Saarländer in anderen Teilen Deutschlands regelrechten Kommunikationsproblemen gegenüber sehen, weil der Münchner oder Kieler die saarländischen „Flitt“ nicht kennt. Im Saarland geht Europa, wie jede gute Liebe, eben auch durch den Magen.

Und natürlich wird auch der „Brand“, der nicht notwendiger Weise mit „Durst“ gleichzusetzen ist, mit französischen Getränken gestillt. Kaum ein Saarländer, der das süß-herbe Panaché nicht kennt und liebt. Und auch die Begeisterung unserer Nachbarn für Wasser mit Sirup teilen die Saarländer, ob Minze, Grenadine oder etwas ganz anderes – alles wird gerne in Frankreich gekauft. Und fast jeder Sektempfang im Saarland müsste eigentlich „Cremant-Empfang“ heißen, denn der französische Schaumwein erfreut sich im Saarland ungebrochener Beliebtheit.

So bin ich aufgewachsen, als Schengenkind. Ohne Grenzen, dafür aber mit grenzenlosen Möglichkeiten. Die Sprachbarriere wurde früh durch Unterricht und Austauschmaßnahmen überbrückt. Antoine de Saint-Exupéry trug mit seinem Petit Prince einen wichtigen Teil dazu bei und ist als De klän Prins inzwischen sogar eingesaarländischt worden. Ein Besuch der Patenschule in Landroffe: Feuerspucker und Seewanderungen, Klettergerüste und Fischköder. Frühe Eindrücke eines wundervollen Landes.

Auch die Sprache bleibt nicht unbeeinflusst. Der Saarländer behauptet immer: „Ich habe kalt.“ Dem Hochdeutschen „ist kalt“. Der Franzose sagt „J'ai froid.“ Somit ist der Saarländer sogar sprachlich näher am Französischen als am Hochdeutschen. Und auch das Trottoir und der Paraplu sind im Saarland allgegenwärtig, während sie im Rest Deutschlands unter anderen Begrifflichkeiten zu finden sind.

So bin ich aufgewachsen, als Schengenkind. Und genauso europäisch wachsen auch alle anderen Schengenkinder auf, die nach mir kamen. Ohne von Menschen auf dem Reißbrett gemachten Grenzen, ohne Erbfeindschaft, dafür mit offenem Herzen und Freundschaft.

Du bist Deutschland? Zum Teil, ja. Aber ich bin mit Sicherheit Europa. Und darüber kann man sich wirklich freuen.

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PoliTick: Die Fußball-WM als völlig andere Herzensangelegenheit...
Am 14. Juni 2010 im Topic 'PoliTick'


Seit ein paar Tagen läuft nun die Fußball-WM 2010, dem dadurch entstehenden Sog kann man sich kaum entziehen. Und, ehrlich gesagt, möchte ich das auch gar nicht. Ich habe zwar (außer meiner Mitgliedschaft im Förderverein des SV Göttelborn) nicht allzu viel mit Fußball zu tun, aber Welt- und Europameisterschaftsspiele schaue ich mir dann doch ganz gerne an. Am Liebsten natürlich so wie 2006 bei gutem Wetter mit Sangria, Schwenkbraten und vor allem vielen gut gelaunten Freunden im Garten.

Eigentlich wollte ich gar nichts über die FIFA-WM schreiben, da ich, wie gesagt, fußballtechnisch nur ein Laie bin. Ich hab das Abseits inzwischen zwar verstanden, der Sinn dahinter hat sich mir jedoch auch nach vielen Erklärungsversuchen noch nicht erschlossen. Doch hier soll es auch gar nicht um Fußball an sich, sondern mehr um das "Drumherum" gehen. Denn die WM hat bei mir ein ganz besondere Leidenschaft erneut entfacht.

Die Fußball-WM 2010 findet in Südafrika statt und ist die erste überhaupt auf dem afrikanischen Kontinent. Mich freut dies riesig, denn so kann sich der Kontinent endlich auch von seiner positiven Seite zeigen. In Afrika gibt es Probleme - Hungersnöte, AIDS und Malaria, Bürgerkriege... die sollen auch gar nicht verschwiegen werden, nur oft überdecken sie leider auch die positiven Dinge, die Afrika zu bieten hat.

Seit 2005 engagiere ich mich für Entwicklungshilfe, für Fair-Trade-Produkte, für ein Kennenlernen anderer Kulturen. Auslöser war das Mega-Konzert-Ereignis LIVE8, dass die Musiker Bob Geldof, Bono und Midge Ure einerseits als Jubiläum von LIVE AID (1985), durchführten, andererseits und hauptsächlich aber auch, um den in Gleneagles stattfindenden G8-Gipfel durch eine weltweit möglichst große (mediale) Präsenz der Zustände in der 3. Welt unter Druck zu setzen, damit zumindest eine Teilentschuldung der betroffenen Staaten erreicht wird. Die erzielten Ergebnisse waren im Nachhinein betrachtet eher mau, für die meisten Zuschauer wird es ein tolles Konzert gewesen sein - viel mehr wohl auch nicht.

Mich hat dieser Tag tief bewegt. Auf den Bühnen standen so ziemlich alle Bands und Musiker, die ich toll finde, nach den Auftritten von Peter Gabriel und der Reunion von Pink Floyd war es dann ganz um mich geschehen. Make Poverty History wurde auch zu meinem ganz persönlichen Motto, die Aussagen des Tages und die vielen Kurzfilme über die Zustände, vor allem in Afrika, hinterließen einen sehr tiefen Eindruck. Ich war wütend, traurig, enttäuscht, beschämt. Und ich hatte es, verdammt nochmal, satt, dem Sterben, Verhungern, Verrecken tatenlos zuzusehen. Aus der geballten Faust, mit der ich vor lauter Wut über diese Zustände am Liebsten auf eine Wand eingeprügelt hätte, wurde letztendlich aber doch eine zupackende Hand.

2006 bin ich dann im Internet darauf aufmerksam geworden, dass in Baden-Württemberg, in Anlehnung an das Mega-Ereignis, eine Veranstaltung namens Live8 auf Schwäbisch mit lokalen Bands stattgefunden hatte, bei der Unterschriften für die Kampagne Deine Stimme gegen Armut gesammelt wurden. Ich fasste die Idee, dass das doch auch im Saarland möglich sein müsste, kontaktierte die Veranstalter sowie die Verantwortlichen bei Deine Stimme gegen Armut, bat bei Bands und Politikern um Unterstützung. Ein Konzert unter dem Motto Gib Deine Stimme gegen Armut mit 16 saarländischen Bands, bei dem sehr viele Stimmen gesammelt wurden, wurde mit Unterstützung vieler Helferinnen und Helfer von mir durchgeführt.

Da ich auch bei den Jusos und der SPD in meinem Heimatort Göttelborn engagiert bin, habe ich versucht, auch hier etwas zu verändern. So konnte ich durchsetzen, dass bei allen SPD-/Juso-Veranstaltungen nur noch Fair-Trade-Kaffee ausgeschenkt wird und selbst der braune Zucker für den Cuba Libre an unserem Juso-Cocktailstand auf dem SPD-Sommerfest ist fair gehandelt. Das mögen Kleinigkeiten sein, aber ich bin auch der Meinung, dass gerade die Sozialdemokratie bei diesem Thema mit gutem Beispiel vorangehen und die internationale Solidarität so hoch wie nur irgend möglich halten sollte.

Vor ein paar Jahren noch ein "Hippie- und Öko-Thema" ist der Bereich Fair Trade inzwischen auch in der "Mitte der Gesellschaft" angekommen. Bei LIDL und Tchibo bekommt man fair gehandelten Kaffee, ProSieben macht Werbung für Fair-Trade-Rosen zum Muttertag. Das alles passiert natürlich, weil inzwischen ein Markt für die Produkte entstanden ist. Natürlich wollen viele sich auch nur die Absolution vom Schlechten Gewissen erkaufen, für andere ist es jedoch frei nach dem Motto "Global denken, lokal handeln" eine gute Möglichkeit, ihren Beitrag zur Verbesserung der Welt zu leisten. Ich bin nicht naiv, der zu gehende Weg ist noch sehr lang, aber es ist ein Anfang, wenn sich zumindest manche Konsumenten Gedanken darüber machen, woher ihr Frühstückskaffee kommt und zu welchen Bedingungen er produziert wurde.

LIVE8 hat mich auch auf afrikanische Musik aufmerksam gemacht: Angélique Kidjo trat zusammen mit meinem Lieblingsmusiker Peter Gabriel in Cornwall auf, K'naan in Toronto, ein absolut starker Vusi Mahlasela in Johannesburg haute mich mit seinem Auftritt fast von der Couch. Das war etwas ganz Neues. Musik aus Afrika und dann noch so verdammt gute? Ich war angefixt und bin es bis heute geblieben. Die erneute Aufmerksamkeit, die afrikanische Künstler auch bei Al Gores Umtweltkonzert Live Earth bekamen (und ein grandioser Auftritt meiner Lieblingsband Genesis, die in London mit Behind the Lines zeigten, wie man ein Konzert eröffnet), trug ihr Übriges dazu bei.

Kurz nach den LIVE8-Konzerten hatte ich das große Glück, dass mich die damalige Vizepräsidentin des saarländischen Landtages, Karin Lawall (heute als Quierschieder Bürgermeisterin auch für die Entwicklungshilfe mehr als engagiert), überraschend und ziemlich kurzfristig nach Losheim zu einem Konzert von Angélique Kidjo mitnahm. Dort fand auch ein Empfang mit verschiedenen Gästen, darunter auch der Botschafter des Landes Benin, statt, Hauptthema war die Eröffnung eines (AIDS-)Waisenhauses in Benin. Anschließend fand das Konzert statt. Angélique Kidjo, eine wahre Power-Frau, haute mich und alle anderen mit ihrem Auftritt um, nach kurzer Zeit tanzten alle, selbst die offiziellen Gäste.

Jetzt findet die WM in (Süd-)Afrika statt. Als bekanntgegeben wurde, wer den WM-Song singt, war ich enttäuscht. Shakira? Warum? Wieso? Was soll das? Warum kein Afrikaner? Ich war mit meiner Verwunderung nicht alleine, auch viele (Süd-)Afrikaner fühlten sich vor den Kopf gestoßen, mir selbst schwebte mehr als einmal das böse Stichwort "neo-imperialistische Geste" im Kopf herum, da half es dann auch nichts, dass Shakira selbst aus einem Entwicklungsland (Kolumbien) kommt.

Doch ein anderer Song sollte sich gegen Shakiras offizielle Hymne durchsetzen. Coca Cola hatten für ihre WM-Werbung den Song Wavin' Flag des kanadisch-somalischen Sängers K'naan ausgesucht. Und, siehe da, der Song läuft bei allen Radiostationen rauf und runter und erreicht in Deutschland Platz 1 - ich vermute mal, dass dies das erste Mal sein dürfte, dass einem afrikanisch-stämmigen Musiker überhaupt ein solcher Erfolg gelingt. K'naan tourt durch's deutsche Fernsehen, mal ein Interview beim Sat1-Frühstücksfernsehen, mal ein großartiger Auftritt bei Wetten das...?! Der kleine, unbekannte Song setzt sich beim Publikum (zugegeben, mit Schützenhilfe einer koffeinhaltigen Limonade) gegen die offizielle, aber aufgesetzte WM-Hymne durch. Für mich mehr als nur eine Genugtuung.

Und, meiner Meinung nach, zeigten die afrikanischen Künstler wie K'naan, Angélique Kidjo, Vusi Mahlasela, The Parlotones, Amadou & Mariam und andere beim WM-Eröffungskonzert, was sie drauf haben und verwiesen damit selbst internationale Größe wie die Black Eyed Peas auf ihre Plätze. Vusi Mahlasela erinnerte daran, dass Afrika schließlich "the cradle of the humankind", die Wiege der Menschheit, ist - was viele entweder vergessen oder noch nie begriffen haben.

Ich wünsche mir, dass sich das Bild von Afrika in den Köpfen der Menschen nach der WM ein bisschen verändert hat, dass Afrika nicht mehr länger, wie bei Joseph Conrad ein Heart of Darkness, sondern auch ein Ort der Kultur sein kann. Diese mag uns als Westeuropäern zunächst noch etwas fremd sein, doch wenn man sich Zeit nimmt und sich darauf einlässt, merkt man, was man die ganze Zeit über verpasst hat. Ich hoffe, dass bei vielen Menschen endlich auch die musikalischen Scheuklappen fallen. Wer braucht schon 08/15-Casting-Mist wie die "Preluders", wenn er eine echte, wahnsinnig talentierte Künstlerin wie Angélique Kidjo haben kann? Wie auch bei Fair-Trade-Produkten ist das ein langer Weg, die WM wird hoffentlich dazu beitragen, dass ihn zukünftig noch mehr beschreiten. Alle anderen werden viel verpassen - selbst schuld!

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